Studium unter Corona-Bedin­gungen: Quali­ta­tive Studie bestä­tigt Online-Müdig­keit und zeigt Perspek­tiven auf

Oliver jung fotografie hfg bildstock 2016 kl
Aula der Hoch­schule für Gestal­tung Schwä­bisch Gmünd (Bild: Oliver Jung)

Gerade haben Minis­ter­prä­si­dent Kret­sch­mann und Wissen­schafts­mi­nis­terin Bauer im Gespräch mit Studie­renden über die Lehren aus dem Studium unter Pande­mie­be­din­gungen disku­tiert und darüber gespro­chen, worauf die Politik beson­ders Acht geben muss. Und sie haben einge­räumt, dass die Studie­renden, die sich mitt­ler­weile im dritten Online-Semester befinden, nicht im Fokus standen. Zwischen den Älteren, die beson­ders gefährdet sind, und den Jüngeren, die eine beson­dere Unter­stüt­zung benö­tigen, sind die jungen Erwach­senen in der Diskus­sion der vergan­genen knapp einein­halb Jahren schlicht zu kurz gekommen. Dieses Wahr­neh­mungs­de­fizit lässt sich durch die Studie eines inter­dis­zi­plinär besetzten Teams von Wissenschaftler*innen der Hoch­schule Biberach (HBC) empi­risch bestä­tigen. Im Mittel­punkt der Unter­su­chung standen die persön­li­chen Erfah­rungen von Lernenden, Lehrenden und Leitenden. Nun liegen die Ergeb­nisse vor – und zeigen Defi­zite auf, aber auch konkrete Poten­ziale, die geschöpft werden können.

Die Hoch­schule für Gestal­tung setzt grund­sätz­lich auf Präsenz, auf praxis­nahes forschen­des Lernen in kleinen Gruppen und den direkten Aus­tausch der Studie­renden und Lehrenden unter­ein­ander. Seit nunmehr drei Semes­tern herrscht Distanz anstelle von Präsenz. Dieser temporär notwen­dige Paradigmen­wechsel hat weit­rei­chende Auswir­kungen auf alle Hoch­schul­an­ge­hö­rige. Um die Auswir­kungen der Online-Semester besser zu verstehen und entspre­chende Maßnahmen zur Abmil­de­rung von Miss­ständen zu entwi­ckeln, arbeiten wir gerne mit der feder­füh­renden Hoch­schule in Biberach zusammen. Für die vorlie­gende Studie orga­ni­sierten wir Inter­view­partner aus dem Kreis der Studie­renden, der Lehrenden, und der Hoch­schul­lei­tung.“, so Prof. Ralf Drin­gen­berg, Rektor der HfG Schwä­bisch Gmünd. 

Das Bauch­ge­fühl, vergessen worden zu sein, das viele Studie­rende u.a. im Dialog mit der Landes­po­litik formu­liert haben, spie­geln sich in unseren quali­ta­tiven Inter­views wider“, sagt Dr. Sonja Sälzle, Koor­di­na­torin der Unter­su­chung. Sälzle ist Erwach­se­nen­päd­agogin und hat mit weiteren Forscher*innen des Biber­acher Insti­tuts für Bildungs­transfer die Studie Entwick­lungs­pfade für Hoch­schule und Lehre nach der Corona-Pandemie“ erar­beitet, die die HBC heute (1. Juni 2021) in Zusam­men­ar­beit mit der Geschäfts­stelle der Studi­en­kom­mis­sion für Hoch­schul­di­daktik an Hoch­schulen für Ange­wandte Wissen­schaften in Baden-Würt­tem­berg (GHD) im Tectum Verlag veröf­fent­licht wird. 

Unser Anspruch war es, ein ganz­heit­li­ches Bild der Corona-Semester zu rekon­stru­ieren“, sagt Sonja Sälzle. Dafür biete die Methode der quali­ta­tiven Inter­views – persön­lich geführte Gespräche anstelle von Online-Frage­bögen – die Chance, ein vertieftes Verständnis von Alltags­er­fah­rungen zu gewinnen und die unter­schied­li­chen Perspek­tiven von Studie­renden, Lehrenden sowie den Personen, die in der Hoch­schul­lei­tung nach den passenden Entschei­dungen rangen, zu berück­sich­tigen“, erläu­tert die Wissen­schaft­lerin. Auf der Grund­lage einer solchen offe­neren Form der Daten­er­he­bung können Hoch­schulen eine tatsäch­liche Pfad­ent­wick­lung skiz­zieren – für die eigene Insti­tu­tion, aber auch für den Typus Hoch­schule für Ange­wandte Wissen­schaften insge­samt, der ja wie keine andere Hoch­schule für Präsenz­lehre steht“. 

86 Teil­neh­mende in 19 leit­fa­den­ge­stützte Einzel­in­ter­views sowie 16 Grup­pen­in­ter­views mit fächer- und hoch­schul­über­grei­fenden Fokus­gruppen hat das Projekt­team in der Zeit von Januar bis Mitte März 2021 geführt. Studie­rende, insbe­son­dere auch Erst- und Zweit­se­mester kamen in den Grup­pen­ge­sprä­chen zu Wort, ebenso Professor*innen und Lehr­be­auf­tragte. Mitglieder der Hoch­schul­lei­tungen aus allen teil­neh­menden HAWs sowie Lehrende mit Good-Prac­tice-Beispielen wurden in Einzel­ge­sprä­chen befragt. Über 8000 Minuten Schil­de­rungen von Alltags­er­fah­rungen, Heraus­for­de­rungen und Wünschen sind so entstanden. Wir haben belast­bare Infor­ma­tionen über die Gesamt­si­tua­tion erhalten und können daraus Anfor­de­rungen, aber auch Möglich­keiten für die Zukunft ableiten“, so Sälzle. 

So sahen sich Studie­rende oftmals uner­wartet mit der Gestal­tungs­not­wen­dig­keit der räum­li­chen Wohn‑, Arbeits- und Lern­si­tua­tion konfron­tiert, mussten eine neue Struktur für ihren Alltag finden und mitunter Heraus­for­de­rungen hinsicht­lich ihrer finan­zi­ellen Situa­tion bewäl­tigen. Sälzle macht dies an einem Zitat aus den Daten deut­lich: Ich arbeite sehr viel nachts (…), aber ich möchte nicht, dass das mein neues Dauer­leben ist“. Nach zwei digi­talen Semes­tern schil­derten die Befragten laut Sälzle eine digi­tale Erschöp­fung, verbunden mit gesund­heit­li­chen Problemen. Auch Mitglieder der Hoch­schul­lei­tungen reagierten emotional auf die Ausnah­me­si­tua­tion, die gekenn­zeichnet war durch Handeln unter Unsi­cher­heit, wie ein Zitat belegt: Man schläft ja schon unruhig in diesen Zeiten, weil man natür­lich immer mit sich ringt: Sind die Entschei­dungen, die man trifft, die richtigen?“

Und was wünschen sich die Betrof­fenen für die Zeit nach der Corona-Distanz? Auf diese Frage gibt die Studie eine eindeu­tige Antwort: Die größte Sehn­sucht ist die nach dem Zurück zur Präsenz-Hoch­schule“, berichtet die Sozio­login Linda Vogt, die dem Forscher*innen-Team ange­hört. Ein Zurück­fallen in die alte Norma­lität jedoch sei damit nicht gemeint. So gehen beispiels­weise Studie­rende davon aus, dass inno­va­tive Lehr- und Lern­mo­delle mehr denn je ein wich­tiges Entschei­dungs­kri­te­rium bei der Studi­en­wahl darstellen und Hybrid-Modelle – also eine Mischung aus digi­talen Formaten und solchen vor Ort – zukunfts­wei­send sein werden. Sonja Sälzle hebt insbe­son­dere den Mix an Formaten hervor, der sich bewährt, sowie die Inter­ak­tion, die sich gerade in der digi­talen Lehre als beson­ders wichtig heraus­ge­stellt hat. In der Zukunft sieht die Wissen­schaft­lerin auf der Grund­lage der Daten zum Beispiel die Chance, die reine Wissens­ver­mitt­lung aus der Präsenz auszu­la­gern. Diese Einheiten können digital über­setzt werden. So kann sie jeder Studie­rende eigen­ständig absol­vieren, falls notwendig mehr­fach. Und die Lehrenden konzen­trieren sich auf die Inhalte, die schwerer zu vermit­teln sind und den direkten Austausch und Lern­transfer benötigen“. 

Welche mögli­chen Hand­lungs­felder sehen die Wissenschaftler*innen für die Hoch­schul­lei­tungen? Deren Aufgabe liege insbe­son­dere darin, die in der Ausnah­me­si­tua­tion entstan­denen Räume tatsäch­lich zu nutzen und sich stra­te­gisch zu posi­tio­nieren. Dafür gebe es nicht den einen Pfad post Corona“, sondern der passende Weg sei abhängig von der jewei­ligen Stand­ort­be­stim­mung der jewei­ligen Hoch­schule in der Hoch­schul­land­schaft. Für eine Digi­ta­li­sie­rungs­stra­tegie komme es darauf an, Aspekte einer bewährten Hoch­schul­lehre intel­li­gent mit der einer digi­talen Erwei­te­rung zu kombi­nieren, erläu­tert Sonja Sälzle, etwa im Bereich Arbeits- und Lern­welten. So können Hoch­schulen ein digi­tales Mitein­ander defi­nieren und gleich­zeitig den physi­schen Raum vor Ort für soziale Begeg­nung und Kommu­ni­ka­tion wieder in den Mittel­punkt stellen. Und vor allem: Die Dualität von Online- und Präsenz­lehre über­winden, damit das Beste aus beiden Welten zum Einsatz kommt“, empfehlen die Autor*innen.

Darüber hinaus müssen Hoch­schulen ihren Gestal­tungs­raum nach innen ausfüllen und mögliche Hinder­nisse iden­ti­fi­zieren. Zudem benö­tigen sie Unter­stützer, die auf verschie­denen Ebenen agieren und verschie­dene Rollen über­nehmen, um Barrieren des Nicht-Wissens, des Nicht-Wollens oder des Nicht-Dürfens zu überwinden“.

Das Studium in Präsenz wird an der Hoch­schule für Gestal­tung Schwä­bisch Gmünd wieder zur Regel werden. Aber die Vorteile der Digi­ta­li­sie­rung, wie etwa die zeit­liche und räum­liche Flexi­bi­lität, möchten wir auch nach der Pandemie erhalten und struk­tu­rell sowie curri­cular veran­kern. Dazu werden wir inner­halb eines Forschungs­pro­jekts, unter Leitung von Prof. Florian Geisel­hart, unsere eigenen digi­talen Werk­zeuge für das gesamte Spek­trum der Präsenz‑, Hybrid- und Remote-Lehre weiter­ent­wi­ckeln“, so Rektor Dringenberg.

Und schließ­lich prognos­ti­zieren die Wissenschaftler*innen den Zusam­men­hang von Digi­ta­li­sie­rung und Wett­be­werb: Deshalb sei es gerade für HAWs notwendig, die Poten­ziale der in der Krise entstan­denen Inno­va­tionen zu schöpfen. Als Hand­lungs­im­puls empfehlen die Autor*innen, Hoch­schule als Ort von Gemein­schaft und Persön­lich­keits­bil­dung zu verstehen und gleich­zeitig Expe­ri­men­tier­felder zu eröffnen, in denen neue Formen von Parti­zi­pa­tion und Sozia­li­sa­tion entstehen, Rollen­bilder hinter­fragt und Hete­ro­ge­nität ermög­licht werden. So kann jede Hoch­schule für sich sowie alle HAWs gemeinsam ein Ziel­bild entwi­ckeln und Schritte zur Umset­zung der Stra­tegie einleiten. 

Teil­neh­mende Hochschulen:

Hoch­schule Aalen – Technik und Wirtschaft

Hoch­schule Albstadt-Sigmaringen

Hoch­schule Biberach

Hoch­schule Esslingen

Evan­ge­li­sche Hoch­schule Freiburg

Hoch­schule Heil­bronn – Technik • Wirt­schaft • Informatik

Hoch­schule Karls­ruhe – Technik und Wirtschaft

Hoch­schule für Wirt­schaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen

Hoch­schule Reutlingen

Hoch­schule für Gestal­tung Schwä­bisch Gmünd

Hoch­schule der Medien Stuttgart

Institut für Bildungs­transfer der Hoch­schule Biberach

Das Institut für Bildungs­transfer ist eine zentrale Einrich­tung der Hoch­schule Biberach. Es arbeitet fakul­täts­über­grei­fend und ‑verbin­dend und unter­stützt die Lehre in Fragen der Didaktik oder des Quali­täts­ma­nage­ments. Zudem beschäf­tigt es sich mit Projekten im Bereich Bildungs­for­schung. Für die Studie wurden 34 Gruppen- und Einzel­in­ter­views mit 86 Menschen geführt. Über 8000 Minuten Daten­ma­te­rial kamen so zusammen, die die Forsche­rInnen ausge­wertet und daraus Ergeb­nisse zusam­men­ge­tragen haben. Die Studie Entwick­lungs­pfade für Hoch­schule und Lehre nach der Corona-Pandemie“ wird in Zusam­men­ar­beit mit der Geschäfts­stelle der Studi­en­kom­mis­sion für Hoch­schul­di­daktik an Hoch­schulen für Ange­wandte Wissen­schaften in Baden-Würt­tem­berg (GHD) am 1. Juni 2021 open-access-Publi­ka­tion im Tectum Verlag veröf­fent­licht wird. Die Autor*innen sind: Sonja Sälzle, Linda Vogt, Jennifer Blank, André Blei­cher, Ingrid Scholz, Nadja Karossa, Renate Strat­mann, Thomas D’Souza

(https://doi.org/10.5771/9783828877351)

GHD

Die Geschäfts­stelle der Studi­en­kom­mis­sion für Hoch­schul­di­daktik an Hoch­schulen für Ange­wandte Wissen­schaften in Baden-Würt­tem­berg (GHD) ist eine landes­weite Einrich­tung mit Sitz an der Hoch­schule Karls­ruhe – Technik und Wirt­schaft. Sie hat die Aufgabe, hoch­schul­di­dak­ti­sche Fort­bil­dungs­an­ge­bote für die Profes­so­rinnen und Profes­soren sowie für die Lehr­be­auf­tragten an Hoch­schulen für Ange­wandte Wissen­schaften in Baden-Würt­tem­berg zu entwi­ckeln und zu orga­ni­sieren, hoch­schul­di­dak­ti­sche Forschungs­pro­jekte anzu­regen und zu betreuen sowie den Erfah­rungs­aus­tausch über Fragen der Lehre zu fördern.

Projekt­ko­or­di­na­tion:

Dr. Sonja Sälzle, Institut für Bildungs­transfer der Hoch­schule Biberach

Die Pres­se­mit­tei­lung wurde von der Hoch­schule Biberach verfasst mit Ergän­zungen der Hoch­schule für Gestal­tung Schwä­bisch Gmünd.